„Referent im Deutschen Bundestag“ klingt für viele nach gut sortierten Akten, gepflegtem Flurgespräch und abendlichem Politik-Talk im Café Einstein. In Wahrheit ist es eine Mischung aus Präzision, Stressresistenz und literweise Filterkaffee – und mittendrin sitzt Julian, 33, Politikwissenschaftler, unauffällig gekleidet, stets mit Laptop, und Meister der Mehrdeutigkeit.
Julian arbeitet im Bundestagsbüro einer Abgeordneten der Regierungsfraktion. Titel: Wissenschaftlicher Mitarbeiter, im Sprachgebrauch aller: Referent. Seine Aufgaben sind klar – und gleichzeitig kaum einzugrenzen.
08:00 Uhr – Posteingang und Positionspapiere
Der Tag beginnt mit einem Blick auf das digitale Chaos: 67 neue E-Mails, davon 12 mit dem Betreff „Dringend“, drei in Großbuchstaben. Zwei davon sind tatsächlich wichtig. Ein Pressespiegel informiert über Debatten vom Vortag, daneben ein Einladungsschreiben zur Podiumsdiskussion „Chancen der Blockchain in der Sozialverwaltung“.
Julian sortiert nach Relevanz. Für eine geplante Rede zum Thema Pflege muss er kurzfristig zwei Studien querlesen, für die Fraktionsrunde das Abstimmungsverhalten im Ausschuss aufbereiten. Und dann ist da noch ein Änderungsantrag, der „bitte bis Mittag als Stellungnahme“ vorliegen soll.
09:45 Uhr – Die große Sitzung, das kleine Zeitfenster
In der Arbeitsgruppe Soziales geht es heute „um alles“ – was ungefähr bedeutet: ein Gesetzentwurf wird angefasst, fünfmal gedreht und bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert. Julian nimmt für seine Abgeordnete teil, macht sich Notizen, flüstert Stichworte zu, wenn Namen und Paragraphen durch den Raum wirbeln.
Der Vorsitzende mahnt zur Disziplin. Ein Referent aus einem anderen Büro flüstert ihm zu: „Wenn du in der AG länger als acht Minuten redest, bekommst du automatisch ein Unterausschuss-Mandat.“ Gelächter.
11:30 Uhr – Kaffee, Kolleg:innen, Krisenszenarien
Pause ist keine Pause. In der Kaffeeküche trifft Julian eine Kollegin aus einem benachbarten Büro. Thema: Haushaltsloch. Die Gerüchteküche brodelt. Irgendein Etat soll überraschend gekürzt werden. Welche Ressorts betroffen sind, bleibt unklar – aber vorsorglich werden schon Reaktionen vorbereitet.
Dann klingelt sein Diensthandy: Die Abgeordnete braucht „eine knackige Position zu digitalen Pflegeassistenzsystemen“. Deadline: 13:00 Uhr. Julian nickt in die Luft, sagt: „Kriegen wir hin“, und seufzt beim Öffnen des nächsten leeren Dokuments.
13:15 Uhr – Drei Absätze mit Weltformel
Die Zwischenüberschrift lautet: „Technologie sinnvoll, Mensch im Mittelpunkt.“ Es ist der zehnte Versuch. Julian feilt an Formulierungen, die sowohl innovationsfreundlich als auch sozial fundiert klingen. Seine Kollegin wirft einen Blick über die Schulter, sagt: „Schreib noch was mit ,Ethik‘ rein. Und ,Ressourceneffizienz‘. Kommt immer gut.“
Er speichert das Dokument unter „PflegeDigital_Statement_Kurzversion3_NEUfinalwirklich.docx“ und mailt es los. Dann taucht er wieder in das Gesetz zur Pflegestrukturreform ein, das mit 132 Änderungsanträgen versehen wurde. Und einer davon könnte problematisch sein.
14:45 Uhr – Lobby-Tango und Laternenpädagogik
Ein Vertreter eines Sozialverbands hat sich angekündigt. Gesprächszeit: 20 Minuten. Thema: Paragraph 37 Absatz 2b, der womöglich in der Umsetzung zur Hürde für kleinere Pflegeeinrichtungen wird. Julian bereitet Argumente vor, prüft Formulierungen, googelt parallel, wie oft der Absatz in Landtagssitzungen zitiert wurde. Antwort: einmal – aber sehr wütend.
Nach dem Gespräch fasst er alles in drei Sätzen zusammen. Die Abgeordnete sagt: „Klingt plausibel. Bitte später in meine Rede einbauen. Aber so, dass es nicht wie Lobbyarbeit klingt.“
Julian kennt das Spiel. Politik ist Kommunikation – und Kommunikation ist oft die Kunst des codierten Klartextes.
16:30 Uhr – Plenum? Protokoll.
Die Abgeordnete hält eine Kurzrede. Julian sitzt auf der Tribüne, beobachtet das Plenum. Im Hintergrund tippt er mit: Begrüßungsfloskeln, Zwischenrufe, nonverbale Reaktionen. Hinterher wird das Protokoll geprüft – „nicht autorisiert“, aber doch durchgesehen. Es wird gestrichen, verschoben, geglättet.
„Kannst du ,Zustimmung der Fraktion‘ bitte durch ,wohlwollende Unterstützung‘ ersetzen? Klingt… verbindlicher“, heißt es. Julian nickt. Er weiß: Sprache baut Brücken – aber auch Mauern.
18:10 Uhr – Licht aus, Gedanken an
Das Büro leert sich. Ein paar Mitarbeitende verabschieden sich in Richtung Stammtisch oder Abendveranstaltung. Julian bleibt noch. Es gibt Rückfragen zur Rede, eine Mail vom Wahlkreisbüro („Kannst du was zum Thema Pflegenotstand bei Demenz in Bayern raussuchen?“) – und eine Präsentation, die „möglichst visuell“ sein soll. Im Thema: Gesetzesfolgenabschätzung für Pflegepersonalbindung im ländlichen Raum.
Julian scrollt durch Grafiken, findet eine mit lächelnden Menschen im Park. Er speichert sie unter „symbolischaberok.jpg“. Dann lehnt er sich zurück.
Er weiß: Morgen ist Mittwoch. Dann kommen neue Anfragen. Neue Pläne. Neue Formulierungen, mit denen man gleichzeitig Haltung zeigen und keine Fehler machen soll.
Fazit: Zwischen System und Seele
Julian ist kein Star im Rampenlicht. Und doch ist seine Arbeit essenziell. Er übersetzt politische Ideen in Formulare, argumentiert für soziale Fragen im Technokratendeutsch, verhandelt im Schatten der Schlagzeilen.
Sein Alltag ist voller Zwischentöne: zwischen Überzeugung und Formulierung, zwischen Deadline und Dialog. Und manchmal, wenn er nachts die Rede nochmal leise liest, denkt er: Vielleicht ist das die Würde des Politischen – dass man kämpft, auch wenn es niemand sieht.