Montagmorgen, 6:30 Uhr. Der Wecker klingelt, aber Nora Keller war schon wach. Wie jeden Montag hat sie erst den Deutschlandfunk gehört, dann drei Schlagzeilen gelesen, bei denen sie seufzte – und eine, bei der sie sich vornahm, es besser zu machen.
Nora Keller, 39, sitzt für eine mittelgroße Partei im Bundestag. Sie wurde im letzten Jahr in den Bundestag gewählt – Direktmandat, knapper Sieg, große Verantwortung. Ihr Wahlkreis liegt in Süddeutschland. Das bedeutet: montags ab nach Berlin, freitags wieder zurück. Und dazwischen ein Leben in geteilten Kalendern.
Montag: Ankommen, abstimmen, anfangen
Im Zug nach Berlin telefoniert sie mit ihrer Berliner Mitarbeiterin. Ein Bürger habe geschrieben, dass der Antrag zur Rentenregelung „unsäglich schwammig“ sei – sie sollen eine Reaktion vorbereiten. In der Mailbox: Einladung zur Sitzung der interfraktionellen AG Pflege, ein Newsletter von einem Gewerkschaftsbund und eine Anfrage einer Regionalzeitung. Auch das sei „mal eben“ zu kommentieren.
Ankunft Berlin: regnerisch, hektisch, vertraut. Im Abgeordnetenbüro liegen die Unterlagen für die Ausschusswoche. Ihr Team hat sie aufbereitet: Zusammenfassungen, Positionspapiere, Gesprächsnotizen. Keller blickt kurz auf den Bildschirm, dann sagt sie: „Okay, los geht’s.“
Dienstag: Ausschussarbeit – zwischen Sachverstand und Schlagzeile
Der Dienstag gehört dem Sozialausschuss. Keller ist ordentliches Mitglied, sitzt in der ersten Reihe, stellt oft Rückfragen. Heute geht es um Pflegelöhne. Sie hat eine Zwischenfrage parat: „Wie viele Einrichtungen werden eigentlich in den kommenden fünf Jahren überhaupt noch wirtschaftlich arbeiten können?“
Die Antwort ist ausweichend. Nicht selten hat sie das Gefühl, dass die echten Debatten außerhalb der Sitzungen stattfinden. „Die meisten Auseinandersetzungen verlaufen höflich“, sagt sie später, „aber die eigentliche Dynamik spürt man eher in den Nebensätzen.“
Zwischen zwei Sitzungen schiebt sie ein Videostatement für Social Media ein. Thema: Pflegenotstand. Im Hintergrund hängt das Parlamentslogo, davor spricht sie ruhig, aber bestimmt. Dann schnell in den Aufzug – sie hat einen Termin mit dem Fraktionsarbeitskreis.
Mittwoch: Termine, Themen, Transparenz
Mittwoch ist ein Tag der Widersprüche. Vormittags trifft sie sich mit Vertreter:innen eines Sozialverbands, nachmittags nimmt sie an einer internen Fraktionsdebatte teil, abends steht sie im Livestream eines Bildungsnetzwerks.
In ihrem Büro liegen inzwischen vier neue Bürgeranfragen. Eine Frau wünscht sich mehr Aufklärung über Geburtskliniken auf dem Land. Ein Schüler schreibt über den Klimastreik. Zwei Senior:innen möchten wissen, wie sie die Gasumlage steuerlich geltend machen können.
„Man darf nie vergessen,“ sagt Keller, „dass hinter jeder Mail ein Mensch steht – mit Sorgen, mit Erwartungen. Es ist Teil meines Jobs, diese Stimme mitzunehmen.“
Donnerstag: Wenn das Plenum ruft
Donnerstag ist Plenartag. Nora Keller hält eine Rede zu einem Antrag zur Entbürokratisierung in der Pflege. Fünf Minuten Redezeit, drei Tage Vorbereitung. „Die Öffentlichkeit sieht die fünf Minuten – aber die Debatte darum beginnt Monate davor.“
Sie trägt ihr Manuskript nicht ab, sondern spricht frei. Einmal weicht sie ab, als sie von einer Altenpflegerin aus ihrem Wahlkreis erzählt: „Sie sagte mir: Ich pflege gern, aber ich will dabei kein Gefühl von Bürokratieverwalterin haben. Ich will Menschen begegnen.“
Nach der Rede geht sie auf die Tribüne, spricht mit einer Schülergruppe. Eine Schülerin fragt: „Was war Ihr größter Irrtum in der Politik?“ Keller lächelt, überlegt kurz. Dann: „Dass ich dachte, es geht schneller. In Wahrheit muss man Geduld mitbringen – und trotzdem ungeduldig bleiben.“
Freitag: Zurück nach Hause
Freitagfrüh packt sie ihre Tasche, druckt letzte Unterlagen aus. Im Zug nach Süden reflektiert sie die Woche. Ein Gespräch im Fraktionskreis war hitzig, ein Antrag wurde vertagt, eine gute Idee fiel hinten runter, weil der Zeitplan keine Luft ließ.
Im Zug beantwortet sie Mails aus dem Wahlkreis, plant eine Bürgersprechstunde, formuliert eine Replik auf einen Kommentar im Lokalblatt. Sie ist müde, aber fokussiert.
Ankunft 16:27 Uhr. Draußen wartet schon ihr Partner mit dem Fahrrad. Der Blick aufs Wochenende? Keine Pause. Am Samstag ist sie bei einer Schulveranstaltung, Sonntag moderiert sie ein Gespräch mit Pfleger:innen.
Fazit: Politik ist kein Job, sondern ein Zustand
Nora Keller ist nicht außergewöhnlich – und genau das macht ihr Porträt politisch wertvoll. Sie ist eine von 736 Abgeordneten im Bundestag, mit Ambitionen, Widersprüchen, Termindruck – aber auch klarer Haltung. Sie ringt mit Reformen, mit Papierbergen, mit Parteifreunden und mit ihrem inneren Anspruch, nicht zur Routine zu werden.
Ihr Alltag zeigt: Politik ist keine große Bühne mit grellem Licht, sondern ein Schreibtisch mit Akten und Argumenten. Ein Ohr am Bürger, ein Auge auf Zahlen, eine Hand am Rednerpult. Und der Versuch, aus all dem so etwas wie Zukunft zu formen.